Erinnerungen, speziell Kindheitserinnerungen haben etwas Schlüpfriges. Du kannst dir nicht sicher sein, ob du dich auch wirklich an das „Richtige“ erinnerst (das, was tatsächlich dein Leben prägte) und ob du dich auch „richtig“ erinnerst, ganz abgesehen vom Hang dieser Erinnerungen ins Mythologische abzugleiten.
Vermutlich kennt jeder die Debatten im Familien- oder Freundeskreis, wenn es darum geht den Sachverhalt eines gemeinsamen Erlebnisses korrekt wiederzugeben, was um so schwieriger, amüsanter, erbitterter wird, je weiter das Ereignis zurückliegt, und besonders dann, wenn ihm, offenkundig oder insgeheim, eine Bedeutung für spätere Entwicklungen untergeschoben wird, die tatsächlich nur den beteiligten Personen begrifflich ist.
Autor Klaus Link:
Familienvater und Nonkonformist, Dostojewski und Nietzsche-Fan, Gelegenheits-Radiomoderator, Rotweinliebhaber und Nachtschreiber.
Kies, Keller, Hundekacke
Kaum gefragt nach einer interessanten Begebenheit in seinem Leben, stürzt er sich auch schon in Kindheitserinnerungen und kramt nach den ältesten Bruchstücken von ganz, ganz früher. Wie er etwa damals als Fünfjähriger gemeinsam mit dem Bruder anlässlich des Umzuges in die größere Wohnung die Holzvertäfelung von der Wand der alten schraubte (wovon noch ein paar unvorteilhafte Fotos erhalten sind); oder Heinos erster Schultag, wie er sich anhand anderer Fotos (eigentlich der Erinnerung an diese Fotos, die ich nämlich schon ewig nicht mehr betrachtet habe, weil sie selbstverständlich in Mutters Album kleben) rekonstruieren lässt, samt Schultüte und schickem Anzug (von Omma genäht) und Nachbarsmädchen, dessen Namen ich vergessen habe, das aber aufgeweckt bis aufdringlich an diesem großen Tag wohl mehr durch Zufall teilnahm und die ganze Fotosession mitbestritt.
Was ist mit den Spuren von Neid, die ich bei dem kleinen Bruder glaube aufzuspüren? Neid auf den großen Bruder, der die Hauptrolle dieses Tages spielte. Interpretiere ich das in dem nicht unerheblichen Abstand von bald vierzig Jahren nicht einfach in die Szene hinein? War es so gewesen? Wie gut kann man sich erinnern? Kann man sich überhaupt ?gut? erinnern, im Sinne von der Wahrheit nahe kommen? Ist Erinnerung nicht auch einem steten Wandel unterworfen mit immer neuen Zutaten aus Neuinterpretationen, Verbrämungen, plötzlich auftauchenden Details, die lange vergessen waren und von denen man nicht genau weiß, ob sie tatsächlich passiert sind oder nur gut ausgedacht usw. usw.?
Wie war das z.B. mit dem Geruch unter den Bäumen der Kupferbergterrasse, wenn Heino und ich an Mamis Hand mit zum Einkaufen genommen wurden (Wir wohnten damals über den Gewölben der Sektkellerei am Rande der Mainzer Innenstadt.)? Wenn ich mich proustmäßig versenke in die verlorene Zeit, riecht es nach feuchtem Kies, Keller und Hundekacke und das ist vielleicht der charakteristische Geruch meiner ersten Jahre, aber nur deshalb, weil mir im Moment kein anderer Geruch aus dieser Zeit präsent ist. Und wer will das schon von sich sagen: Die ersten fünf Jahre meines Lebens waren olphaktorisch geprägt von Kies, Keller und Kacke? Da spannt doch jeder Analytiker sofort seine Büchse.
Erinnerungen, speziell Kindheitserinnerungen haben etwas Schlüpfriges. Du kannst dir nicht sicher sein, ob du dich auch wirklich an das ?Richtige? erinnerst (das, was tatsächlich dein Leben prägte) und ob du dich auch ?richtig? erinnerst, ganz abgesehen vom Hang dieser Erinnerungen ins Mythologische abzugleiten. Vermutlich kennt jeder die Debatten im Familien- oder Freundeskreis, wenn es darum geht den Sachverhalt eines gemeinsamen Erlebnisses korrekt wiederzugeben, was um so schwieriger, amüsanter, erbitterter wird, je weiter das Ereignis zurückliegt, und besonders dann, wenn ihm ? offenkundig oder insgeheim- eine Bedeutung für spätere Entwicklungen untergeschoben wird, die tatsächlich nur den beteiligten Personen begrifflich ist.
Gefragt nach einer interessanten Begebenheit in seinem Leben, greift er lieber nach etwas Leichtem und Unverfänglichem, und am unverfänglichsten sind da die Anekdoten, die man immer mal wieder gerne am Kneipentisch oder an der Geburtstagstafel erzählt und die man hinreichend auf Pointe und Witzischkeit frisiert hat. Und die zwar ein gewisses Schlaglicht auf die Person des Erzählers werfen, aber nicht dringend als markante Wegmarke, entscheidender Wendepunkt oder ähnliches in seinem Leben anzusehen sind. Was nun folgt ist keine Kindheitserinnerung und auch kein Schwank aus meiner Jugend, sondern der kurze Bericht über eine Urlaubswoche in der Pfalz, die ich gemeinsam mit Ulrike verbrachte.
Nur bei Bedarf
Anfing das ganze mit dem Gang zum Bahnhof, um sich die Zugverbindung geben zu lassen, und wo sich schon abzeichnete, dass dieser Ausflug etwas Besonderes werden würde. Wir wollten erst einen Abstecher nach Weinheim zu Jo und Maome machen, um anschließend nach Notweiler/Pfalz weiter zu reisen, wo wir eine nette Pension von Ulrikes Eltern empfohlen bekommen hatten, die für einen kurzen Spazier- und Wanderurlaub wie geschaffen war.
Der Schalterbeamte am Bahnhof wälzte das Kursbuch (so was gab es damals noch und Auskünfte wie ?Notweiler/Pfalz? gehörten nicht dringend zum Alltaggeschäft), suchte und fand eine Verbindung Weinheim ? Kaiserslautern (vorbei an der Ruine Frankenstein!), fand den Anschluss Kaiserslautern ? Pirmasens und stieß dann auf ein unbekanntes Kürzel, dessen Bedeutung er erst nach längerem Blättern erfasste: ?Von Pirmasens geht es dann mit dem Bus weiter. Was bedeutet jetzt des Zeiche´ da? Notweiler? Moment, Moment. Ah, da ham´ mers: Nur bei Bedarf. Haha, nur bei Bedarf! Sie müsse´ dem Fahrer Bescheid sache, dass Sie dort hinwolle´, sonst fährt der nämlich dran vorbei.
Haha, nur bei Bedarf! Haha, nur bei Bedarf!? Es war ein sich Schütteln und Wabern hinter dem Tresen, und es war ziemlich sicher der Höhepunkt jenes Arbeitstages dieses Menschen gewesen. Nur bei Bedarf. Haha!
Wir kamen an in dieser Pension in Notweiler/Pfalz. Spät abends zwar, und die Wirtin hatte nicht mehr so recht mit uns gerechnet, aber wir kamen an. Und die Anreise sollte nicht das einzige Abenteuer in der Pfalz bleiben. Womit fahre ich fort? Erst Wald oder erst Bergwerk? Die Chronologie ist mir abhanden gekommen und stellt es mir als frei. Na, dann mal erst die Waldepisode, weiß ja eh keiner außer mir, was kommt.
Unfreiwilliges Nachtlager
Notweiler liegt im pfälzisch-französischen Grenzgebiet, der Weg nach Wissembourg ist kein Katzensprung, aber wenn man früh genug aufbricht, an einem Tag durchaus hin und zurück zu bewältigen. Solches hatten Ulrike und ich vor. Ich will nicht von Pfälzer Wäldern schwärmen. Sie sind schön, es riecht dort gut und man läuft dort gerne. Doch du bist im Wald. Rechts sind Bäume. links sind Bäume und dazwischen Zwischenräume. Und schlimm ist es, wenn dabei die Schuhe schubbern. So ging es Ulrike.
Barfuss erreichte sie Wissembourg, und soweit ich mich erinnere, verbrachten wir den Hauptteil unseres Aufenthaltes in diesem Städtchen damit, neue Schuhe für ihre Füße und den Rückweg zu suchen. Abgesehen von der Wartezeit am Busbahnhof, denn wir hatten beschlossen aufgrund der schwindenden Zeit den nächsten Bus in Richtung Notweiler zu nehmen. Direkt ins Ort konnten wir uns nicht fahren lassen, nicht mal bei Bedarf, denn wir waren schließlich auf der französischen Seite.
Spät, es dunkelte schon und so oft fährt der ÖPNV in Frankreich auch nicht, kamen wir in einem französischem Nachbarort Notweilers an. Wir wussten die ungefähre Richtung und machten uns auf in den Wald, voller Hoffnung unsere Pension noch irgendwann zu erreichen, und was anderes hätten wir denn tun sollen? Nun kam es, wie es kommen musste. Nicht, dass wir uns verliefen im düsteren Wald (dazu nachher ein paar abschließende Worte), aber auch wir kamen nicht an der alten Menschheitsweisheit vorbei, dass man, je dunkler es wird, umso weniger sieht. Wanderzeichen? In Frankreich ohnehin eher willkürlich, aber in Frankreich bei Nacht nicht mal zu erahnen. Weg und Steg? Ja schon, aber wo? Unfreiwillig richteten wir uns darauf ein die Nacht im Wald zu verbringen.
Da stießen wir auch auf einen Hochstand, der dann wenigstens das Ende der ziellosen, nächtlichen Wanderung markierte. Ich wollte oben schlafen, aus Schiß vor nächtlichen Wildschweinüberfällen und was immer die Fantasie sich ausmalt, wenn sie nicht gefragt ist. Ulrike lehnte ab, weil sie fürchtete im Schlaf abzustürzen. Also schliefen wir unter dem Hochstand. Wir kehrten Blätter zusammen, schließlich war es letztes Drittel Oktober, und versuchten es uns so warm wie möglich zu machen. Und natürlich hörte ich Geräusche, die mich klamm und bange machten, bis ich endlich eingeschlafen war. Es wird niemand wundern, dass wir beizeiten wach waren am nächsten Morgen. Ulrikes Orientierungssinn hatte uns keine zwei Kilometer von der Pension in Notweiler unser Nachtlager finden lassen. Erstaunlich schnell fanden wir unseren Weg. Zum Frühstück waren wir rechtzeitig zurück. Wir zupften die letzten verwelkten Blätter unserer Schlafstatt aus den Pullovern und taten so, als ob nichts gewesen wäre.
Le BerchWerch
In Notweiler gibt es ein altes Bergwerk, das schon lange nicht mehr in Betrieb, sondern ein reines Schaubergwerk ist. Frag mich nicht, was dort einstmals abgebaut wurde. Jedenfalls wollten Ulrike und ich uns das mal anschauen. Als wir hinkamen, war die letzte Führung gerade beendet, wir waren die einzigen neuen Besucher, und der Führer hatte eine Pause nötig. Es gab eine kleine Restauration, in der der Führer, Aufseher und Hausmeister offensichtlich mit seiner Familie hauste, denn außer seiner Frau, die uns Getränke servierte, gab es noch eine kleine Tochter, die mit ihren Schulaufgaben zu kämpfen hatte. Ohne es zu wollen wurden wir in den Familienalltag hineingezogen mit Hausaufgaben, Haushaltspflichten und Hausmeisterei. Das Verhältnis war entspannt, nahezu persönlich. Nur irgendwann hatten wir ausgetrunken, der Führer hatte sich erholt. Er bat uns nach draußen an den Schalter zu kommen. Nun, wir wollten ja rein ins Bergwerk.
Wir also raus zum Schalter. Dort sitzt besagter Führer, mit dem wir eben noch angeregt geplauscht hatten, rückt sich die Kappe auf der Stirn zurecht, scheint uns noch nie gesehen zu haben und fragt: ?Sie wünschen?? Überrascht melden wir unser Begehr, und der Hausmeister, Führer etc. ist nur äußerlich wiederzuerkennen. Förmlich kassiert er den Eintrittspreis, händigt uns Helme aus und bittet und um noch einen Moment Geduld auf etwaige Nachzügler. Es kommt natürlich niemand mehr (Mein Gott, wir sind in Notweiler/Pfalz) und wir treffen uns schließlich am Bergwerkseingang.
?Dieses ist der Stollenmund?? Routiniert spult der Führer seine schon hundertemal gesagten Sprüchlein ab, eingeübt auf einen bestimmten Rederhythmus und die immerselben Worte. Wir gehen hinein in den Stollen, und dann Ulrike: ?Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Es ist so eng hier. Ich leide unter Platzangst.? Der Führer ist verständnisvoll, hat ja auch niemand anderes außer uns beiden zu versorgen. Er erkundigt sich aufrichtig nach Ulrikes Befindlichkeit, macht sich ernstlich Sorgen, erwägt kurz einen Abbruch der Führung, um dann eine forcierte Version derselben zu empfehlen. Er wechselt wieder die Rollen vom mitfühlenden Mitmenschen zum unerbittlichen Informationsträger und was wir dann im Folgenden geboten bekommen ist ein Schnelldurchlauf an Bergwerkskunde und der Aspekt liegt in diesem Falle auf schnell, denn weil er eben nicht auf Mitteilenswertes und Auswendiggelerntes verzichten will oder kann, muss er eben doppelt so schnell reden und die platzangstkranke Ulrike in verdoppeltem Tempo hinter sich herziehen. Aber: Wenn man es sich hätte behalten können, wüsste man jetzt alles über das Bergwerk Notweiler in der Hälfte der Zeit.
Sehr viel später erfuhr ich, dass eine kleine Zollstation in der Nachbarschaft Notweilers von der Baader/Meinhof- Gang zum unbemerkten Grenzübertritt genutzt wurde. Historische Stätten allüberall.
Santa Claus is back in town
In der Wiesbadener Bleichstraße gab es ein Speiselokal, dessen Inhaber in unregelmäßigen, aber wiederkehrenden Abständen wechselten, weil keiner von ihnen letztlich richtig Fuß fassen konnte. Die Räume hatten schon italienische, türkische und gut bürgerliche Wirtschaft erlebt. Zur besagten Zeit warb ein Schild im Schaufenster verdächtig vielfältig für chinesisch-japanisch-koreanische Küche. Dennoch speiste man dort gut, und wir waren gelegentliche Gäste.
Dieses Mal, als die Lust sich bekochen zu lassen uns wieder in dieses Restaurant führte, war es der 6. Dezember, recht spät am Abend. Wir nahmen Platz an einem der rustikalen Eichentische. An den mediterran weiß gekalkten Wänden hing zwischen chinesischen Blumenmotiven auf Reisstrohmatten auch ein Laotse mit seinem Ochsen.
Die einzigen Gäste waren wir nicht. Der Tresen war ordentlich besetzt und auch am Nebentisch war was los. Der Wirt begrüßte uns mit asiatischem Überschwang. Wir studierten die Karte und bestellten. In offensichtlicher Fehleinschätzung der kulturellen Eigenheiten des deutschen Nikolaustages hatte sich der Wirt eine Veranstaltung zum Feiertag ausgedacht, die das vermehrte Publikumsinteresse wecken und damit den Umsatz seines Restaurants steigern sollte.
Rechts neben der Theke hatte eine Einmannkapelle ihre Burg aus Keyboard, Mischpult und sonstigem Equipment aufgebaut und sorgte für Unterhaltung, und statt der gewohnten fernöstlichen vom Band stifteten diesmal deutsche, live vorgetragene Schlager den musikalischen Rahmen. Der Künstler nannte sich Fips the Blondi-Man. Und irgendwie sah er auch so aus.
Erwartungsfroh hatte der Wirt ein paar Tische zur Seite geräumt, um eine Tanzfläche zu schaffen. Tänzer und Tänzerinnen jedoch waren bislang ausgeblieben oder schon wieder gegangen. Die Trinker am Tresen ignorierten die Musik, und wir waren ? ebenso wie die Leute am Nachbartisch ? nicht vorbereitet auf einen deutschen Schlagerabend im Chinalokal. Tanzen wollten wir nicht. Ich könnte nun den Gängen unseres Menus folgend versuchen zu schildern, was sonst noch geschah. Mit Suppe, Frühlingsröllchen, Hauptgericht, Dessert und reichlich Bier dazu.
Wie Fips the Blondi-Man unerschütterlich sein Programm runternudelte, obwohl sich niemand dafür interessierte außer dem Wirt, der seinen Frust über den misslungenen Tanzabend erst im Alkohol zu ertränken versucht hatte und der dann mit einer unglücklichen Karaokenummer aufwartete, einem Kneipenvergnügen, das damals bei uns noch gänzlich unbekannt war. Wie ein neuer Gast am Tresen Platz nahm, nämlich ein Nikolausdarsteller, der nach den erledigten Hausbesuchen noch auf ein Bier eingekehrt war und Bart und Sack zwar abgelegt hatte, aber nicht seinen roten Mantel. Und wie schließlich die Frau des Wirtes aus der Küche gekommen war und, nachdem sie mehrmals mäßigend, aber erfolglos auf ihn eingeredet hatte, Lokal und Gatten der Jahreszeit entsprechend gekleidet verließ. Ich könnte es versuchen. Aber ich kann mich nicht erinnern, was wir gegessen hatten. Es wird wohl was mit Huhn gewesen sein.
Im Blizzard mit Hoss Cartwright
Einmal, der Erzähler hatte gerade seinen neunzehnten Geburtstag passiert, machten Liebesangelegenheiten einen Besuch im Hunsrück unumgänglich. Um seiner Unternehmung den gebotenen romantischen Nachdruck zu geben und die Ernsthaftigkeit seiner Absichten zu unterstreichen, hatte er beschlossen die Strecke von rund hundert Kilometern zu Fuß zu bewältigen. Dabei schreckten ihn nicht das winterliche Wetter und auch nicht die Aussicht eine, vielleicht zwei Nächte im Freien verbringen zu müssen.
Voll banger Vorfreude packte er das Nötigste zusammen: ein kleines Zweimannzelt (so etwas wog damals noch fast zwanzig Kilo), Bundeswehrschlafsack, Unterlegmatte (?), Unterhose zum Wechseln (??). Aus unerfindlichen Gründen musste er dabei an ein Buch denken, das er – Jahre war´s her – gelesen hatte. Eine frühe Art der Zweitverwertung erfolgreicher Fernsehserien, in diesem Fall: Bonanza als Jugendroman.
Und besonders erinnerlich war ihm das Kapitel, in dem Hoss Cartwright, der Dicke mit dem komischen Hut, in einen Schneesturm geriet und danach über Tage schneeblind durch die Wildnis irrte, weil er seine Augen nicht gegen das gleißende Weiß hatte schützen können.
Mit besorgtem Blick durch das Fenster registrierte er die Wetterlage: strahlende Sonne, geschlossene Schneedecke. Vorsichtshalber suchte er nach seiner, nach irgendeiner Sonnenbrille, aber wie es oft ist, wenn du was dringend brauchst und zwar sofort: du findest es nicht. Im Keller stieß er dann beim Stöbern auf alte Schulbücher und damit auf den rettenden Einfall. Aus einem Schutzumschlag (grüntransparente Folie) schnitt er sich ein Visier zurecht, das er bei seiner Wanderung unter die Pudelmütze klemmen wollte.
Da er sich nun aber schon mit Vorsorgemaßnahmen beschäftigte, machte er sich weitere Gedanken. Nicht dass er Visionen hatte von abgefrorenen Zehen, Amputationen und einem künftigen Leben im Rollstuhl oder zumindest an Krücken, trotzdem schien es ihm geraten zwecks der reflektierenden Körperwärme seine Füße mit ausreichend Alufolie aus der Küche zu umwickeln, bevor er in seine Wanderstiefel schlupfte. So ausgerüstet machte er sich auf den Weg.
Mittag war schon lange vorüber. Weit würde er an diesem Tag nicht mehr kommen, aber er war unterwegs. Er schritt also durch das rheinhessische Winterhügelland mit seinen schneebedeckten Zuckerrübenfeldern und Wingerten und achtete kaum der wenigen Begegnungen mit spazierenden Familien, Hundeausführern usw. und ignorierte die irritierten Blicke, die wohl seinem gewaltigen Rucksack und seinem provisorischen Blendschutz galten.
Doch wenn du schwer zu tragen hast und dir dabei noch eine Kunststofffolie (grüntransparent) im Gesicht klebt, hast du irgendwann eine Pause nötig. Erschöpft und mit schwitzender Stirn zog er sich das Visier aus der Mütze. Und dachte: ?Jetzt hat´s mich doch erwischt.? Rot! Alles war rot! Es brauchte eine Weile, bis ihm die in der Schule gelernte, optischen Grundkenntnisse aus der Bredullie halfen. Logo: Grün ? rot, Komplementärfarben, ist doch klar. Der erstaunliche Effekt dauerte nur wenige Sekunden, dann hatten sich seine Augen wieder justiert. Für den Rest seines Tagesmarsches verzichtete er auf den Sonnenbrillenersatz, da es ohnehin zu dämmern begann.
Weit war er nicht gekommen an diesem Tag, doch er war unterwegs. Neben einem zugefrorenen Wassergraben stellte er mühsam sein Zelt im Dunkeln auf. Nicht weit entfernt bellte ein Hund. Er behielt Kleider und Schuhe an und kroch so wie er war in den Schlafsack. Es war saukalt. Die Nacht verging mit Zittern, Frieren und Hundegebell. Am nächsten Morgen hatte er Schwierigkeiten sein Zelt so weit zusammen zu falten, dass es in den Rucksack passte. Klamme Finger und das Gefühl, als hätte er Holzscheite in den Stiefeln.
Für alle, deren Schwerpunkt im Heimatkundeunterricht nicht Mainz und Umgebung war, sei mitgeteilt, dass Nieder-Olm etwa zehn Kilometer von Mainz-Hechtsheim, wo er aufgebrochen war, entfernt ist. Dort bekam er in einem Schuhgeschäft Thermo-Schuheinlagen, die er über seine frosttauben Füße stülpte. Er schüttete die Aluminiumbrösel aus den Stiefeln (nichts anderes war übrig geblieben von seinem genialen Fußwärmeschutz) und zwängte sich mit Ächzen und Krächzen in das wegen der wattierten Socken nun viel zu enge Schuhwerk wieder hinein.
Der Bahnbus brachte ihn zurück nach Mainz. Zuhause zurück musste er als erstes seine Fersen verarzten, die bluteten wie bei Aschenputtels Stiefschwester. Die Sache mit Frau B. fand wenig später bei anderer Gelegenheit ihr unerfreuliches Ende, aber die Einlagen nutzte er noch jahrelang als Hausschuhe.
Weil´s thematisch gerade passt: Wir hatten uns bei Dirk und Eva versammelt, um Evas Geburtstag zu begießen. In der lockeren Tischrunde war auch ein Freund Evas: Netter Kerl. Gelernter Erzieher, rothaarig. Ein charmanter Plauderer und fulminanter Tänzer von unaufdringlicher Männlichkeit. Alles Eigenschaften, die ihn zu einem gern gesehenen Gast machten. Wir spielten das beliebte Gesellschaftsspiel: Alle TV-Serien aus der Kindheit aufzählen und keine vergessen. Und da irgendwo mittendrin sucht die Geliebte nach einem Namen, den sie schon auf der Zunge hat: ?Wie heißen die denn bei Bonanza? Cartwright und weiter? Little Joe ? Adam ? Ben ? und ? und ? Horst.? ?Der heißt nicht Horst.? platzte es da wie aus der Pistole geschossen aus Evas rothaarigem Freund. Wie sein Name war, muss ich wohl nicht erklären.
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