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AutorenbildEmily Paersch

Die Tür schlug zu




„Wissen Sie, wer ich bin?“ fragt er müde. „Ich habe nicht die Ehre es zu wissen.“ „Ich bin der Minister für Staatssicherheit Abakumow.“ „Sehr erfreut.“ sage ich und mache eine leichte Verbeugung. Seine Hand vollzieht eine unbestimmte Geste. „Sagen Sie mir zunächst, wie Sie zur Sowjetmacht stehen.“ „Wie ich zu ihr stehe? Scharf ablehnend.“ Abakumow nickt mit dem Kopf. „Gut, Treguboff, aber wie steht es jetzt damit?“ „Ebenso.“


Die Tür schlug zu


Ich saß in der Falle. Wie war das geschehen, wie habe ich, ein immerhin erfahrener Konspirateur, zulassen können, überlistet zu werden? Aber es war nun einmal geschehen. Ich saß im Keller des Hauses der Grenzkommandantur in Berlin, in Weißensee. Ein gewöhnlicher Keller, grelles Licht, ein mit kalten Tropfen bedecktes Kanalisationsrohr, eine eisenbeschlagene Tür, ein Guckloch ohne Glas, so dass alles zu hören ist, was im Korridor vor sich geht.


Hier befindet sich noch ein menschliches Wesen, ein blasser, hagerer Mann in schmutziger Wäsche, völlig verstört, mit unruhig fliegendem Blick, mager und offensichtlich hungrig. Er drückt mir mit betrübter Miene feierlich die Hand und stellt sich vor: “Intendanturoffizier Säbel.“ Ein merkwürdiger Name. Mit einem Säbel hat er wirklich keine Ähnlichkeit. Und dann sah ich noch die auf die Wand gemalten braunroten Buchstaben RCH. Ich setzte mich auf die hölzerne Bettstelle, und da lief in meinem Gehirn der Film meines früheren Lebens ab.


Die Kindheit, die tiefgläubigen Eltern, hochachtbare Menschen. Das Leben in der Fremde, Schule, Jugend, die bittere Aussicht, sich den Weg aus dem Nichts bahnen zu müssen. Das Jahr 1933, Fanfaren und Fackeln des Hitlertriumphes… 1934, ein warmer und duftender August in Berlin, der Wendepunkt meines Lebens: Ich werde Mitglied des NTS. Arbeit, Studium, Wirken im Bund. Eine erste Liebe, von der nur zu sagen ist, dass sie mich mein ganzes Leben lang begleitet. Freunde, Kameraden, die kleine und arme, aber so vertraute Kirche in der Nachodstraße. Der Verkauf der Zeitung ?Für Russland? an der Kirchentür. Der Krieg, der Siegeszug Deutschlands durch Europa. Schließlich der Einmarsch der deutschen Truppen in die Sowjetunion, der 22. Juni 1941. Die Zerschlagung Deutschlands, der Zerfall der Wlassow-Armee, die Gefangenschaft in der Tschechei. Ich spüre, wie die kalten Fühler der Sowjetorgane nach mir zu tasten beginnen. Ein verzweifelter Salto mortale rettet mich. Wie ein von Scheinwerfern getroffenes Flugzeug warf ich mich plötzlich zur Seite und tauchte in der Dunkelheit unter. Die Fühler des Feindes zuckten hin und her. Dreimal drohte mir das Verderben, dreimal gelang es mir, den Feind zu überlisten.


Und nun das, was erst heute geschah, erst vor einer Stunde: Ich verlasse das Theater, zwei Sowjetoffiziere nähern sich mir. Rundherum ein Ring von Zivilisten. Greifende Finger an meinem rechten Arm, ein Schlag auf den Hinterkopf. Erst im dahinjagenden Auto komme ich zu mir. Durchsuchung in der Kommandantur: Man nimmt mir die Krawatte, den Gürtel, die Aktentasche und die Papiere ab. Ein fürchterlicher Schmerz im Kopf. Ich werde in den Keller geworfen (…)


Beim Minister


Überraschend wurde ich in eine mir bisher unbekannte Etage der Lubjanka gebracht: Dieses Zimmer ist noch größer als das eben von mir verlassene, aber es erscheint fast dunkel. Jemand sitzt am Tisch und schreibt. Nur die hellen Hände sind deutlich zu sehen. Der Sitzende sieht mich an. Sein gescheites Gesicht ist rasiert, voll, ein wenig gedunsen. Über die Wange zieht sich eine Narbe. Er scheint sehr müde zu sein, lilablaue, ungesunde Schatten unter den Augen und geschwollene Tränensäcke. Er trägt einen dunklen Zivilanzug, zum leuchtend weißen Kragen eine fest gebundene Krawatte. Die Augen blicken mich ruhig, klug und sehr gütig an.


"Wissen Sie, wer ich bin?“ fragt er müde. “Ich habe nicht die Ehre es zu wissen.“ “Ich bin der Minister für Staatssicherheit Abakumow.“ “Sehr erfreut.“ sage ich und mache eine leichte Verbeugung. Seine Hand vollzieht eine unbestimmte Geste. “Sagen Sie mir zunächst, wie Sie zur Sowjetmacht stehen.“ “Wie ich zu ihr stehe? Scharf ablehnend.“ Abakumow nickt mit dem Kopf. “Gut, Treguboff, aber wie steht es jetzt damit?“ “Ebenso.“ Das bleiche Gesicht wird wieder düster und unbewegt. Abakumow schweigt einige Sekunden traurig. “Wissen Sie auch, Treguboff, dass der Feind vernichtet wird, wenn er sich nicht ergibt?“ “Ich weiß. Sprechen Sie von mir?“ “Ja.“ “Man braucht mich nicht mehr zu vernichten, ich bin schon längst vernichtet worden.“ “Und tun Sie sich nicht selbst leid?“ Ich schweige. “Es ist doch schade, Treguboff!“ meint er nach einer Weile. “Sie denken noch darüber nach. Wir beide könnten miteinander kolossale Dinge verrichten!“ Ich spüre, dass die Audienz beendet ist.


Diabolische Versuchung


Im Oktober 1949 wurde ich von der Lubjanka in das Butyrki-Gefängnis überführt. Plötzlich geht es wieder zurück in die Lubjanka, Zimmer 693a, bekannte Gesichter. “Ihr Verfahren ist nun abgeschlossen, bald werden Sie ins Lager fahren. Gleich wird sich ein Genosse mit Ihnen unterhalten. Ich hoffe, dass sie sich anständig benehmen werden“ Am Tisch sitzt eine Frau. “Grüß dich, Jura, erkennst du mich nicht?“ erklingt eine ruhige, etwas spöttische Stimme. Das ist so unwahrscheinlich, dass ich einen Augenblick lang zur Salzsäule erstarre. Dann ist mir, als zögen sich Decke, Zimmer und alles übrige in die Länge, wie Spiegelbilder auf einem Flaschenhals. In kaltem Schweiß gebadet, gehe ich zum Sessel. Eine gepflegte Hand gießt Wasser in ein Glas.



Zwei Zeitabschnitte fließen zu einem zusammen, das Berlin von 1944 und jetzt, Moskau 1950. Aber zwei Personen können nicht zu einer einzigen zusammenfließen, jener, vor sechs Jahren, und dieser, die jetzt vor mir sitzt. Jene hatte das Gesicht einer jungen, vierundzwanzigjährigen Frau über dem schneeweißen Kragen eines dunkelblauen Kleides. Das Gesicht war von harter Arbeit ermüdet, aber hübsch. Besonders gefielen mir die grauen Augen, aus denen eine tiefe, nicht eigentlich weibliche Nachdenklichkeit sprach. Wir schlossen Bekanntschaft bei meinem Besuch eines der Ostarbeiterlager. Dann gelang es mir, ihr eine andere Arbeit zu beschaffen. Sechs Wochen später hatte sich in ihrem Zimmerchen bereits ein ansehnlicher Packen Bundesliteratur angehäuft. Sie war gescheit und verstand alles, was ich ihr sagte. Vera erriet wohl meinen Plan, sie zu einem Mitglied des Bundes zu machen. Sie las und arbeitete alle Schriften durch, die ich ihr gab. Aber auf meinen Vorschlag, sie unmittelbar in die Arbeit des Bundes einzuführen, ging sie nicht ein. Schließlich grub ich sie in das tiefe und weite Archiv meines Gedächtnisses, in jenes Archiv, das alle die Menschen enthielt, die in Bezug auf den Bund mit einem großen oder auch kleinen Fragezeichen versehen waren.


“Ja, Jura, schon damals, in Berlin, wollte ich mich mit dir aussprechen. Eines Tages wollte ich dir alles sagen, was ich niemandem sagen durfte: Ich bin Oberleutnant der Staatssicherheit und mit einem Sonderauftrag betraut!? Hättest du mich den Deutschen angezeigt?“ Ich weiß genau, dass ich das niemals getan hätte, blicke sie dennoch fest an und sage: “Unverzüglich wäre ich hingegangen und hätte dich angezeigt, ohne mich zu schämen. Du bist ein Feind und damit basta!“ “So ist es recht! Wenn du gleich gesagt hättest, du hättest mich nicht angezeigt, so wäre alles zu Ende! Aber du lügst, wie ein Schüler, du hast mich geliebt und hättest mich nicht denunziert. Auch ohnedies hättest du mich nicht angezeigt. Du sagst das jetzt nur so, weil du dich ärgerst und dich nicht gemein benehmen willst. Ich kenne die Geschichte deiner Entführung aus dem Theater. Natürlich hast du einen Bock geschossen! Aber vielleicht auch nicht, alles hängt allein von dir ab!“ “Von mir hängt gar nichts ab!“ “Doch, sonst wärst du nicht hier. Dein Verfahren ist abgeschlossen, du bist schon gespalten, aus dir ist nichts mehr herauszupressen. Sieh mal, Jura, dein NTS kämpft für Russland, aber die Sowjetmacht tut doch alles, um Russland stark zu machen. Dein Platz ist bei uns. Abakumow weiß alles von dir, ich habe selbst mit ihm gesprochen, und er hat mich ermächtigt, dieses Gespräch mit dir zu führen. Alles wird dir verziehen, alles vergessen. Vergiss nicht, der Bund hat dich verraten und deinem Schicksal überlassen! Du bist ihm gegenüber zu nichts mehr verpflichtet.“


Mir ist, als säße dort am Tisch die frühere Vera. Innerlich zittere ich und fühle, wie ich schwankend werde. Dann taucht vor meinem geistigen Auge das alte, in Leder gebundene Evangelium meiner Mutter auf, die Worte des Bundeseides kommen mir in den Sinn, die umgekommenen Mitglieder des NTS ziehen an mir vorüber, die von der Kugel Getroffenen, in den Lagern zugrunde Gegangenen oder in der Emigration von der Tuberkulose Dahingerafften. In einem endlosen Zug schreiten sie an mir vorbei. Sie alle wollten leben, so wie ich, Alte und Junge, Männer und Frauen, und haben getreu dem Eid ihr Leben hingegeben. Ich weiß, sie wollen mir jetzt nur ein Wort sagen: “Verräter!“ Ich erhebe mich von meinem Stuhl, auch Vera steht auf. “Und ich, das aktive Mitglied des Bundes, Treguboff, sage Ihnen jetzt, was ich damals in Berlin zu sagen unterließ. Ich fordere Sie auf, Ihre Pflicht gegenüber dem gemarterten Volk zu erfüllen und am Kampf gegen das volksfeindliche Regime teilzunehmen!“ “Du, du mich?! Nein, Jura, hier, am Dserschinskij-Platz, ist es zu spät, mich anwerben zu wollen! Du fällst keinen Baum, der nicht für dich geschaffen ist. Du willst nicht? Nun, später wirst du es bedauern!“


Die Telefonscheibe dreht sich, das Gespräch ist beendet. Sie und ich, wir beide, sind sehr erschöpft und erzürnt. Ganz kraftlos bin ich, vor mir Leere. “Führen Sie dieses feindliche Subjekt weg!“ sagte sie irgendwem, vielleicht dem Diensthabenden. Damals, in Berlin hatte ihr voller Name Vera Stepanowna Polsunkowa gelautet.


Das Gebiet der Lager


Nachts sieht man, was sich auf beiden Seiten der Bahnstrecke tut. Erfahrene Leute haben festgestellt, dass wir schon an Kirow vorbei sind und uns auf der berühmten Magistrale nach Workuta befinden, die quer durch die Autonome Republik Komi läuft. In den Nächten sehe ich zwischen drückenden Trugbildern, wie wir an Lagern vorüberfahren, die längs der Hauptstrecke liegen.


Die Lager haben in der Regel die Form eines mehr oder weniger akkuraten Rechtecks. An den Ecken stehen die mit ihren Scheinwerfern leuchtenden Wachttürme, die wie die Dreibeiner vom Mars in einem utopischen Roman von Herbert G. Wells aussehen. Schon so manche Nacht fahren wir immer wieder an Lagern vorüber. Erst später erfuhr ich, dass die gesamte Hauptstrecke nach Workuta von Lagern umgeben ist, die, wie Sterne in den Sternbildern, in einem ungeheuren Lagersystem miteinander verbunden sind. Leute, die Bescheid wissen, behaupten, dass die Lagerbevölkerung der Republik Komi zahlenmäßig die freie Bevölkerung dieser Republik bei weitem übersteigt.


Endlich sind wir angelangt. Stacheldraht, Wachttürme, von Posten besetzt. Am Tor verblichene Losungen, daneben eine Wachstube. Überall Draht, Draht, Draht… ?Der ganze Transport in die Badestube! Nicht auseinanderlaufen!? Die Badestube ist eine düstere Baracke. Drinnen ist es kalt, immer wieder wird die Außentür geöffnet. Deutsche Kriegsgefangene bedienen die Badestube. Jeder wird der sogenannten Sanbearbeitung unterzogen. Man zieht sich aus. Alle Kleidungsstücke, bis auf die Ledersachen, werden an einen eisernen Ring gehängt und anschließend durchdämpft, das heißt, desinfiziert. Man setzt sich auf einen nassen, kalten Stuhl. Der Friseur rasiert einen überall, bei den Frauen werden die Köpfe jedoch nicht rasiert. In der Badestube erhält jeder zwei Kübel mit kochendem Wasser, das ist die Norm. Das kalte Wasser ist nicht rationiert. Irgendwo in der Ecke wird noch um Wasser gebettelt. Ich wasche mich sitzend, stehen kann ich nicht mehr. Dann ziehe ich die vom Dämpfen heißen Sachen an.


“Deine Fahrtgenossen sind in der Baracke.“ Sagt ein in Reithosen steckender Mann. Die Baracke ist langgestreckt, wie ein Sarg, zwei Öfen, zwei vergitterte Fenster. Es ist kalt, obwohl beide Öfen lebhaft brennen. Jemand röstet etwas. Ich nehme auf den Brettern am Eingang Platz. “Wie heißt du?“ fragt mich mein Nachbar, ein junger Bursche mit rundem Gesicht und kuriosem Haarschopf.


“Hast du schon einen Löffel?“ Verständnislos sehe ich ihn an. “Als erstes muss man sich im Lager einen Löffel beschaffen. Womit sonst willst du essen? Der Olle in der Ecke dort verkauft Löffel.“ “Ich besitze nicht eine einzige Kopeke!“ “Hm!“ Der junge Mann nimmt mich in Augenschein. “Na gut, hier hast du einen Rubel.“ Er zieht ein angefettetes Stück Papier aus der Tasche. Gleich darauf bin ich im Besitz eines Löffels. Er ist aus Eisen und verrostet, aber immerhin, ein Löffel!


 

Der Autor:

Jurij Andrejewitsch Treguboff (Tregubov) wurde am 4. April 1913 in St. Petersburg geboren und starb am 27. Februar 2000 in Frankfurt am Main

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