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  • AutorenbildEmily Paersch

Meine ganz persönliche Zeitreise

Aktualisiert: 29. Sept. 2021



Reisen ist eine meiner großen Leidenschaften. Neben zahlreichen beruflichen Reisen hatte ich 1992 das Glück, auf den Spuren von Charles Heidsieck, dem Gründer des gleichnamigen, französischen Champagnerherstellers zu reisen. Begleiten Sie mich auf meiner ganz persönlichen Reise in die Vergangenheit. Umrunden Sie mit mir den Erdball mit den Transportmitteln des letzten Jahrhunderts.


Steigen Sie mit mir ein in den Orientexpress und begleiten Sie mich von Venedig nach London, überqueren Sie den pazifischen Ozean von San Francisco nach Yokohama mit einem Frachtschiff und reisen Sie mit mir von Peking nach Moskau in der legendären Transsibirischen Eisenbahn.






Der Anruf


„Emily, hast du Interesse an einer Weltreise?“ Derlei Scherze sind mir nicht neu. Mein immerwährendes Reisefieber war schon des öfteren Zielscheibe für Spaß und Spott.




Hummer statt Mord

Beginn einer Weltreise der etwas anderen Art

Der Job ist gekündigt, die Wohnung vermietet, der Pass um einige Visa reicher und der von Spritzen gepeinigte Körper von nun an gegen diverse Krankheitserreger immun. Auf dem kleinen Tisch des Zugabteils liegt unser Reiseplan. Im Takt des Zugratterns versuche ich, mir die den Globus umspannenden Reiseetappen einzuprägen. Mir gegenüber liegt Steffi – meine Reisepartnerin. Sie erholt sich von den Strapazen des gestrigen Abschiedsfestes in Berlin. In den Händen hält sie noch immer den Charles-Heidsieck-Footsteps-Pass und mustert den ersten der insgesamt zwanzig Aktionsstempel. Jenem Reiselustigen Charles Heidsieck, Gründer gleichnamiger Champagnerfirma, verdanken wir diesen außergewöhnlichen Wettbewerb. Mitte letzten Jahrhunderts war er losgezogen, seinen Champagner in aller Welt bekannt zu machen.



Dabei geriet er nicht nur in die Wirrungen des amerikanischen Sezessionskrieges und wurde dort unter Verdacht auf Spionage für mehrere Monate inhaftiert; auch in Rußland war ihm das Schicksal weniger hold, wurde er dort doch Opfer mehrerer Kosakenüberfälle.


Auf seinen abenteuerlichen Spuren sollen wir nun den Erdball umrunden. Mit uns angetreten sind fünf weitere Zwei-Personen-Teams aus England, Frankreich, Amerika und Singapur. Jedes Team startet in seinem Heimatland und hat zur Auflage, die vorgegebenen 20 Städte innerhalb von hundert Tagen zu bereisen. Wichtigste Bedingung und gleichzeitig enorme Herausforderung dieses Wettrennens ist die Begrenzung der erlaubten Transportmittel. Benutzt werden dürfen ausschließlich jene Transportmittel, die auch schon im 19. Jahrhundert zur Verfügung standen.


Vor uns liegen also ca. 25.000 Kilometer per Zug und ca. 20.000 Kilometer per Schiff. Die ersten drei Wochen führen uns im Eiltempo durch Europa. Bewaffnet mit insgesamt drei Koffern, einem Laptop, einer umfangreichen Kameraausrüstung und zwei kleinen Rucksäcken stürzen wir Tag für Tag zu einem anderen europäischen Bahnhof und ärgern uns dort über fehlende Rolltreppen und Gepäckwagen, süffisante Blicke und mangelnde Hilfsbereitschaft. Nach wenigen Tagen schon steht uns der Stress ins Gesicht geschrieben. In nächtlichen Träumen verfolgt mich „Männeken Pis“ auf Holzschuhen, Edith Piaf singt Wiener-Walzer-Melodien auf der Bühne der Mailänder Scala.


Die Tage sind geprägt von Kontrasten. Eben noch sitzen wir auf den immer unbequemer werdenden Sitzbänken eines Zuges und teilen den mitgebrachten Reiseproviant mit den mitreisenden „Interrailern“, wenig später stehen wir in der pompösen Lobby des gebuchten 5-Sterne-Hotels.


Schon beim Eintreten werden wir von fragenden Blicken gemustert. Die zurückliegende Nachtfahrt hat ihre Spuren hinterlassen.


Übermüdet, stinkend vor Dreck stehen wir in unseren Jogginganzügen vor der Rezeption. Der Blick der Empfangsdame lässt unschwer erkennen, dass sie verzweifelt versucht, uns in ein Gästeprofil einzuordnen. Die Spekulationen über unsere Person reichen von extrovertierten Künstlern, über Drogendealer bis hin zu Töchtern reicher Schweizer Eltern, die ihren Schützlingen zum, erfolgreich absolvierten Internat die versprochene Luxusreise finanzieren. Gegen Ende der Europatour werde wir „Charlie“ untreu.


Für kurze Zeit wandeln wir auf den Spuren Miss Marples‘. „Hummer statt Mord“ tippt Steffi in den Laptop. Luxus pur in nostalgischen Ambiente begleitet uns von Venedig nach London. Wir sitzen zutiefst zufrieden in den üppigen Samtkissen des Orient-Expresses.


Zielort Dublin

Tag X


Es war abzusehen. Nachdem uns bislang das Reiseglück hold war, soll uns jetzt das Chaos ereilen. Sintflutartige Regenfälle der letzten Nacht haben das englische Zugstreckennetz weitgehend lahmgelegt – ausgerechnet am Tag unserer Weiterreise nach Dublin. Auch unser Zug ist gestrichen. Um unsere Fähre zu erreichen, bleiben noch vier Stunden, geschätzte Distanz 450 Kilometer. Das Wettrennen mit der Zeit beginnt. Wir beugen uns der höheren Gewalt und mieten ein Auto. Steffi entpuppt sich als Meisterin im Linksverkehr. Während unzähliger Überholmanöver entgeht so mancher fremde Seitenspiegel nur knapp dem „Kollisionstod“.


15:45 Uhr: Abfahrtszeit unsrer Fähre. Wir befinden uns noch 60 Kilometer vor Holyhead. „Here it goes“. Vorbei der Traum, den heutigen Abend in einem irischen Pub, erstmals irisches Bier schlürfend, verbringen zu dürfen.


21:30 Uhr: Das Bier schmeckt scheußlich. Wir sitzen in einem irischen Pub…. Kaum hatten wir den letzten Waliser Hügel überwunden, entdeckten wir am Pier völlig unerwartet die Fähre einer anderen Gesellschaft, Zielort Dublin. Es muss Steffis Schutzengel gewesen sein, der Mitleid hatte, denn ….. ihr schmeckt das Bier.



Die Weite des Ozeans

Das Traumschiff

Endlich – wir verlassen den europäischen Kontinent. Ein deutscher Luxusliner soll uns in den nächsten zwei Wochen über den Atlantik nach Montreal bringen. Dem verwirrten Kabinensteward reichen wir noch am ersten Abend zwei prallgefüllte Plastiktüten übelriechender Schmutzwäsche. Die feste Tischordnung sieht ein älteres Ehepaar als Tischnachbarn vor. Die hämischen Seitenblicke der mitreisenden Passagiere an den umliegenden Tischen entgehen uns nicht. Sie scheinen erleichtert, nicht in gleicher Situation zu sein und bei einem Altersunterschied von geschätzten 40 Jahren gemeinsame und unterhaltsame Tischthemen finden zu müssen. Doch schon bald sollen erste Beschwerden eingehen und unser Tischsteward weist unsere Vierergruppe dezent darauf hin, doch bitte leiser zu lachen. Auch der Crew geben wir Rätsel auf.


Nachdem selbst die Passagierliste keinen Aufschluß über unsere Position gegeben hat, treten sie persönlich an uns heran. Pures Mitleid veranlaßt sie, die ungewöhnlich jungen Gäste in ihre ebenfalls jüngeren Kreise aufzunehmen. Sie weihen uns ein, in die Geheimnisse des Schiffrumpfes. Fortan leisten wir ihnen des öfteren Gesellschaft bei ihren allabendlich zelebrierten Duty-free Parties im Reich der Bullaugen.


Auf dem Weg durch den St. Lorenz-Strom – unserer vorerst letzten Schiffsetappe – genießen wir die beeindruckende Szenerie des Indian Summer.


Die leuchtenden Herbstfarben verwandeln die Küste in eine Märchenlandschaft. Der Gedanke, dieses schwimmende Luxushotel bald verlassen zu müssen, stimmt uns traurig. Unser Bad hängt voll von frisch gewaschener Wäsche. Den Grenz- und Zollbeamten in Montreal begegnen wir porentief rein.


Der bestechende Charme der französisch sprechenden Metropole Kanadas erleichtert uns das Abschiednehmen vom zweiwöchigen Faulenzen. Das Schienennetz hat uns wieder.


Willkommen Amerika

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten


Unsere Zahnreihen quälen sich durch das erste amerikanische Sandwich. Unsere Augen versuchen, die Nebelschwaden zu durchdringen. Irgendwo auf der rechten Seite des Zuges müssen sie sein – die Niagarafälle.


Unser streng durchkalkulierter Reiseplan lässt es leider nicht zu, das Naturschauspiel aus der Nähe zu bewundern. Wolkenbruchartige Regenfälle bieten uns jedoch nicht viel später ein Ersatzschauspiel auf dem Weg nach New York.


In der Stadt des Big Apple irren wir durch die Straßenschluchten Manhattan‘s, um einen geeigneten Doktor für unseren offensichtlich schwer erkrankten Laptop zu finden. Jene Leihgabe des Wettbewerbbüros hat uns schon seit Beginn der Reise Kopfzerbrechen bereitet. Inzwischen streikt er völlig. Unsere Reiseberichte sind wie durch Geisterhand in Hieroglyphen verwandelt.



Straßen von San Francisco

Die Trennung


Wir sitzen bereits in San Francisco am Pier 39 mit Blick auf die Seehundkolonie, sie seit wenigen Jahren mehrere Stege der Pieranlage besetzt hält. Steffi‘s Blick wandert von den über uns kreisenden Möwen zu dem Flugticket, das sie in der Hand hält. Wie vorgesehen, wird sie hier aus beruflichen Gründen von Ulrike abgelöst, die mich die weitere Reise begleiten wird. Steffi betrachtet es als Verrat, morgen einen dieser blitzschnellen Jets zu betreten. Zu frisch sind die Erinnerungen an die nicht enden wollenden Schiffs- und Zugstunden.


Noch immer lachen wir z.B. über die Nacht, die wir angstzitternd mit 150 französischen Soldaten im Großraumabteil verbrachten. Erst nachdem auch der letzte, erschöpft vom zurückliegenden Manöver, eingeschlafen war, ließ unser Zittern nach. Die fest um unsere Hände geschnürten Tragegriffe von Laptop und Kameratasche hatten bis dahin jedoch schon tiefe Furchen hinterlassen. Das Gebrüll der Seehunde reißt uns aus unseren Erinnerungen. Wir ziehen los zum Flughafen, um Ulrike abzuholen. Wenig später stehen wir, nun zu dritt, als Straßenbahnsurfer“ auf der äußersten Trittstufe des Cablecar und jagen durch die Straßen von San Francisco. Den einzigen gemeinsamen Abend verbringen wir in Chinatown, wo wir prompt Zeugen einer gewalttätigen Auseinandersetzung werden. Es ist Zeit, Amerika zu verlassen.




La mer

Irgendwo in Richtung Westen


Wir schauen der startenden Maschine nach. Im Innern ärgert sich Steffi über den ungemütlichen Sitzplatz, eingeklemmt zwischen großmäuligen Männern. Was Ulrike und mich betrifft, so sind wir beunruhigt. Unser Frachtschiff hat Verspätung. Noch ist unklar, wann es uns in San Francisco auflesen wird. Vor uns liegt der unendlich scheinende Pazifik. Irgendwo in Richtung Westen liegt unsere nächste Station – Tokio.


Zahlenspiele auf See

Pazifik


Der Name dieses Ozeans kann nur als Beschwörung gedacht sein. Unter friedlich verstehe ich etwas anderes. Seit Tagen liege ich in meiner Koje. Wenn ich aus dem Bullauge unserer Kabine schaue, sehe ich die gigantische Ladefläche unseres Frachters. Unzählige Container türmen sich dort und geben bei diesem Wellengang ein entsetzliches Konzert. Auf dem Container direkt vor unserem Fenster prangt ein Totenkopf – mir ist übel. Ulrike schafft es noch manchmal, sich zur Brücke zu schleppen, um dort die neuesten Wettervorhersagen und die voraussichtliche Ankunft in Tokio zu erfragen.

Zehn Tage soll die Überfahrt dauern. Erschwert wird die genaue Berechnung der Reisezeit durch diverse Taifune, die derzeit vor Japans Küste toben und der Sicherheit wegen umfahren werden müssen. Außer der 16-köpfigen Besatzung sind noch weitere sechs Passagiere an Bord.


Sieben Tage sind wir bereits auf See. Seit unserem Besuch beim 1. Ingenieur im Maschinenraum läßt mich das Zahlenspiel, das er uns anhand des Bordcomputers erläuterte, nicht mehr in Ruhe. Zirka 31 Grad darf sich das Schiff laut Computer neigen, ansonsten verliert es seine stabile Lage und kippt. Ich habe keine Ahnung, von wo aus diese 31 Grad gemessen werden. Meine Koje neigt sich bei hohem Wellengang in einem verdächtig steilem Winkel.



Japanische Wortpaläste

24 Stunden Nippon


Ich fühle mich reich beschenkt. Für 24 Stunden genieße ich festen Boden unter den Füßen. Japanische Grenzschützer haben uns die „aufgehende Sonne“ in den Pass gestempelt. Trotz Taifun ist uns die Ankunft einen Tag vor der geplanten Weiterreise nach Singapur geglückt.


Statt der erhofften „Teegartenland-schaft“ begleitet uns eine nahtlose Betonwüste auf dem Weg von der Hafenstadt Yokohama nach Tokio.


Die drei Geschäftsstunden, die nach Ankunft im Hotel noch bleiben, sind fest verplant. Wir üben uns jetzt in Gebärdensprache. Nachdem Ulrikes Passbilder entwickelt sind, hetzen wir zum chinesischen Konsulat, um ihr noch fehlendes Visum zu beantragen. Gegen viel Bares gibt es das sogar sofort. Am anderen Ende der Stadt überreicht uns das zuständige Reisebüro die Tickets für die nächste Etappe. Denke ich an Tokio, denke ich an die weißen Spitzenkissen der Taxis…




Konnichiwa – Guten Tag

Das süße Leben


Kaum zu glauben, dass ich nach dieser Höllenfahrt über den Pazifik freiwillig an Bord eines weiteren Schiffes gehe. Mit 16 Knoten geht es gen Singapur. Die See ist ruhig. Wenn ich nicht im Liegestuhl an Deck unseres japanischen Luxusliners liege, besuche ich die Unterrichtsstunden des Bordmagiers und übe mich im Zaubern. Ulrike schließt sich einer Tanzgruppe an. Wir genießen hier einen überraschenden Sonderstatus. Es ist ungewöhnlich, so sagt man uns, zwei Europäerinnen an Bord begrüßen zu dürfen. Die Crew ist rührend um uns bemüht. Eine eigens für uns abgestellte Dolmetscherin gibt den japanischen Wortpalästen einen Sinn.


Der Küchenchef persönlich weiht uns ein in die Geheimnisse der Sushi-Küche und lehrt uns das richtige Essen des rohen Fischs. Nachdem der Käptain bei einem „geschickten Manöver“ unseren Familienstand in Erfahrung gebracht hat, hagelt es ungeniert Einladungen der männlichen Besatzung. Mitreisende Passagiere jagen mit Kameraausrüstung hinter uns her, um die deutschen Exoten für das Urlaubsalbum abzulichten. Erst am letzten Tag gelingt es mir endlich, zum Abschied nicht automatisch die Hand zu reichen. Ich verbeuge mich.


Tristesse im Land des Lächelns

Kein Ausweg?


Wir genießen die Sonne des Südens, obwohl uns das feuchtheiße Klima sehr zusetzt. Trotz der vielen verschiedenen Kulturen, die hier aufeinandertreffen, wirkt Singapur seltsam steril. Funktionale Plattenbauten haben das asiatische Flair in dieser hochtechnisierten Inselrepublik verdrängt.


Strenge Entsorgungsverordnungen haben Singapur zur saubersten Stadt Asiens gemacht. Das achtlose Wegwerfen eines Papiertaschentuchs z.B. kann 50 Dollar kosten. Die Einfuhr von Kaugummi wurde vor einigen Jahren untersagt.


Zu oft haben Rowdies damit die Lichtschranken der U-Bahn blockiert. Wir freuen uns, daß Englisch eine der Amtssprachen ist, denn für uns gilt es, hier eine Schiffspassage zurück nach Hongkong auszumachen. Da es sich um eine der verkehrsreichsten Hafenstädte der Welt handelt, sind wir sehr optimistisch. Doch weit gefehlt, denn gerade hier müssen wir uns ewig um eine Verbindung bemühen, denn Passagierschiffe legen nicht allzu häufig in Singapur an und die hier verkehrenden Frachtschiffe nehmen in der Regel keine Privatpersonen auf. Nachdem auch die Verhandlungen mit der amerikanischen Navy scheitern, bereitet die örtliche Vertretung von Charles Heidsieck zur Aufmunterung einen „Drahtseil-Akt der besonderen Art“ vor.


In einer nachempfundenen altchinesischen Stadt werden einem Fremden und mir jeweils ein Gürtel angelegt. Daran befestigt sind Drahtseile, an denen wir wenig später 10 Meter über den Boden gezogen werden. Entlang einer Schiene bewegen wir uns ca. 30 Meter vor und zurück. In den Händen halten wir beide ein Schwert. Der Fremde gibt sich geschickter in diesem traditionellen Scheinkampf, ich dagegen schreie umso lauter.


Nach insgesamt sieben Tagen Zwangspause sitzen wir endlich glücklich auf einem Frachter einer deutschen Reederei. Der Pressesprecher der deutschen Botschaft, der zufällig von uns erfährt und sich für unsere Mission begeistert, hat seine zahlreichen Kontakte genutzt. Danke.


Moderne Seeräuber

Surreale Ängste


Die Crew ist unruhig. Wir durchfahren das südchinesische Meer. Für Ulrike und mich ist es die zweite Durchfahrt, doch erst jetzt erfahren wir von den dort lauernden Seeräubern. Mit ihren kleinen und wendigen Booten stürmen sie des öfteren die trägen Frachtschiffe. Meistens sind sie nur an der Bordkasse, den Wertsachen und dem Geld der Besatzung interessiert. Das Öffnen der Frachtcontainer erfolgt nur nach zielsicheren Tipps konspirativer Zöllner.


Die Motoren laufen auf Hochtouren. Bei 22 Knoten, erklärt der Kapitän, ist das Entern schwieriger.


Mir erscheint diese Angst übertrieben. Von einem Ingenieur erfahre ich jedoch, daß vor nicht allzu langer Zeit ein Schiff der selben Gesellschaft geplündert wurde. Ich fühle mich versetzt in eine irreale Filmwelt. Unser Film findet jedoch mit der unversehrten Einfahrt in den Hafen Hongkongs sein Happy End. Die letzte Schiffsetappe unserer Weltreise ist überstanden. Ich bin selig.


Hongkong – diese Stadt gleicht einem Bienenschlag. Hektisches Treiben charakterisiert die Atmosphäre der englischen Kolonial-Metropole. Ein Wolkenkratzermeer gigantischen Ausmaßes machen die Skyline dieser Stadt so faszinierend. Fremde Gerüche schwängern die feuchtheiße Luft.


Auf dem Nachtmarkt erstehe ich ein Seidentuch und bewundere die originalgetreuen Nachbauten teuerster Markenuhren. Von dem staatlichen Reisebüro Chinas erhalten wir Zugtickets für die längste Eisenbahnverbindung der Erde: Hongkong-Peking-Moskau.


Ärmliche Häuser säumen den Weg entlang der Gleise. Wir sind in China. Draußen sehe ich Menschen mit großen Strohhüten ihre Wäsche in Flüssen waschen. Ochsen dienen der Bestellung der Felder. Befestigte Straßen scheinen selten zu sein auf dem Land. Gewagte Bambuskonstruktionen dienen als Baugerüste.


Die Hauptstadt des Landes überrascht durch ihre zwei Gesichter. Der verblichene Glanz der „Verbotenen Stadt“ steht im starken Kontrast zum sonst so kargen Stadtbild. Sechs Millionen Fahrradfahrer bestimmen den Straßenverkehr. Privatautos sieht man selten. Polizei patrouilliert über den Platz des himmlischen Friedens – noch vor drei Jahren Schauplatz blutiger Studentenrevolten. Die winterliche Atmosphäre und die von vielen getragenen Armeemäntel machen es mir schwer, mich diesem tristen Eindruck zu erwehren.


In vollen Zügen

Mythos Transib


Es ist der Auftakt zur letzten großen Etappe unserer Weltreise. Peking – Moskau steht auf unserem Zugticket, was soviel bedeutet wie 9.000 Kilometer oder sechs Tage Zugfahrt. Ich glaube kaum, daß auch nur ein Mitreisender umfassendere Vorbereitungen getroffen hat. Nach all den Schauermärchen, die uns von früheren Transib-Reisenden berichtet wurden, sind wir jetzt gewappnet gegen Diebstahl und Hunger. Darüber hinaus werden wir uns mit zweilagigem Toilettenpapier verwöhnen, statt auf die einseitige Zeitungsseite der Prawda (dtsch.: Wahrheit) zurückzugreifen.


Unsere Hartschalenkoffer sind in häßliche Schonbezüge verpackt und somit erheblich in ihrer Attraktivität geschmälert. Ein stabiler Gurt soll das Öffnen der Koffer erschweren. Mit Fahrradschlössern werden wir sämtliches Gepäck am Kabineninventar befestigen. Nachts wird ein geschickt geknotetes Seil ungewolltes Öffnen der Kabinentür verhindern. Sollen sie doch kommen, die organisierten Raubritter.


Mit uns drängen schwerbepackte Händler durch die schmalen Gänge des Zuges. Das Verstauen ihrer mannshohen Seesäcke scheint unmöglich. Ulrike und ich stellen mit Entsetzen fest, daß unsere Pritschen in getrennten Kabinen liegen. Wir können uns beide nicht vorstellen, sechs Tage und Nächte allein mit drei Fremden in einer Kabine zu hausen. Der Zug rollt schon länger und es ist einige Dollars später, als Ulrike und ich endlich das O.K. der Provodnik (Waggonleiterin) bekommen, und gemeinsam in einer anderen Kabine Unterschlupf finden.


Der Bordkoch läuft mehrmals täglich durch den Zug, um amerikanisches Bier anzubieten. Seit er weiß, dass ich Deutsche bin, begrüßt er mich mit dem einzigen deutschen Satz, den er beherrscht: „Achtung, Achtung, hier kommt ein russischer Panzer!“


Seitdem wir russisches Territorium befahren ereignet sich an jedem Bahnhof schier Unglaubliches. Trauben von Menschen warten mitunter Stunden auf den verspäteten Zug, um den fahrenden Händlern ihre in Peking erstandenen Waren aus der Hand zu reißen. Die Notbremse wird des öfteren betätigt, weil der ein oder andere Händler nicht rechtzeitig zurückkehrt. Seit Irkutsk bieten grellgeschminkte Russinnen eindeutige Dienste an. Männer stehen Schlange vor den verdunkelten Kabinen.


Die Heimkehr

Langfinger im Schiffsrumpf


Der letzte Streckenabschnitt scheint wie ein Kinderspiel: Moskau – Kopenhagen – Berlin. Die völlig überteuerten Tickets für die Heimreise erstehen wir auf dem Schwarzmarkt – reguläre Fahrkarten sind keine mehr zu haben.


Ein Zwischenfall ereignet sich an der dänisch-deutschen Grenze. Während der Fährüberfahrt Richtung Deutschland verlassen Ulrike und ich kurz den im Schiffsrumpf geparkten Zug. Fazit: Ulrikes Rucksack samt Geld und Reisepass wird gestohlen. Deutsche Grenzbeamte wollen ihr nach erfolgreicher Umrundung des Erdballs die Einreise ins Heimatland verwehren. Schallend lachend verziehe ich mich in die Zugtoilette. Nach intensiver Überprüfung der Personalien lassen sie Ulrike ziehen. 40 Kilometer vor Berlin bleibt der Zug wegen Maschinenschadens stehen. Dieses Mal lache ich über die im Ausland so hochgeschätzte deutsche Verlässlichkeit.


Nach dreieinhalb Monaten, 45.000 Kilometern, 456 Stunden im Zug und 906 Stunden auf See kehre ich am 24. Dezember zurück.


Auf die typische Frage: „Wie war es?“, reagiere ich mit Stottern. Zu viele Eindrücke schwirren mir durch den Kopf. Im Garten meiner Mutter finde ich zwei Fußspuren im Sand, darunter schreibe ich:


Auf den Spuren von Charles Heidsieck …


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